Vom 16. bis 19. September 2014 fand zum 70. Mal der Deutsche Juristentag statt. Da ich das letzte Mal vor zwei Jahren aus Zeitgründen nicht nach München reisen konnte, wollte ich unbedingt dieses Jahr die Jubiläumsveranstaltung in Hannover erleben. Mit großen Erwartungen bin ich in die niedersächsische Landeshauptstadt gefahren und was soll ich sagen: Es hat sich mehr als gelohnt.
Reger Austausch
Ich wurde von den anwesenden Juristen sehr freundlich aufgenommen und meine anfängliche Befürchtung, als Nichtjuristin unter den 2.500 Rechtsanwälten, Richtern, Staatsanwälten, Rechtsassessoren, Notaren, Juraprofessoren, Rechtswissenschaftlern, Rechtsreferendaren, Jurastudenten, Rechtssekretären, Wirtschaftsjuristen, Syndikus-Anwälten, Strafverteidigern, Fachanwälten, Strafrichtern, Amtsanwälten und wie sie alle hießen nicht ernst genommen zu werden, erwies sich bei den meisten als falsch. Vielleicht lag es daran, dass ich mit ihnen fachsimpeln und meine seit Jahren angesammelten Fachkenntnisse preisgeben konnte. Ich stellte mich stets als Rechtsübersetzerin und Gerichtsdolmetscherin vor, was immer auf breites Interesse stieß. An Gesprächsstoff mangelte es nicht und ich konnte Beispiele aus meiner Praxis den interessierten Zuhörern präsentieren. Selbstverständlich habe ich auch die Chance genutzt, um auf die Probleme hinzuweisen, mit denen die freiberuflichen Rechtsübersetzer und Gerichtsdolmetscher in ihrem Arbeitsalltag zu kämpfen haben. Insgesamt lässt sich sagen, dass wir einen sehr fruchtbaren Austausch hatten. Ich habe den Richtern, Staatsanwälten, Strafverteidigern usw. erklärt, was für mich wichtig ist, um einen gelungenen Übersetzungs- oder Dolmetschauftrag zu realisieren und sie haben mir das Geschehen hinter den Kulissen der Gerichtssäle und JVAs erläutert. Ich habe mich sehr über die Fragen gefreut sowie darüber, dass ich ein bisschen zur besseren Wahrnehmung unseres Berufes beitragen konnte.
Fortbildung
Ich habe in dieser Woche auch unglaublich viel gelernt. Ich bekam die Möglichkeit, live mitzuerleben, welche Themen die Juristen heutzutage beschäftigen und welche Überlegungen sie anstellen. Es war sehr spannend, sich die Referate und Diskussionsbeiträge anzuhören. Da ich in meinem Berufsalltag sehr häufig mit Strafrecht zu tun habe, entschloss ich mich für den Besuch der Abteilung Strafrecht. Das Thema „Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft“ klang vielversprechend und hatte direkten Bezug zu meiner Arbeit. Schließlich fungieren Übersetzer und Dolmetscher als Kulturvermittler und wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft.
Abteilung Strafrecht
So stellten sich die Juristen die Frage, wie weit die Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland als einer zunehmend pluralistisch geprägten Gesellschaft den unterschiedlichen kulturellen und/oder religiösen Vorstellungen im Bereich des Strafrechts Rechnung tragen soll, ob die tatrelevanten kulturellen oder religiösen Gebote bei der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt werden sollen, wie man der Paralleljustiz begegnen soll usw. Weiter ging es um Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Ehrenmorde und die Definition des Geistlichen bei der Anwendung des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO. Nach ausgiebigen Diskussionen haben die stimmberechtigten Mitglieder des Deutschen Juristentages e.V. über die Beschlussvorschläge abgestimmt. Die Beschlüsse der einzelnen Abteilungen gibt es hier zum Nachlesen.
Abteilungen Urheberrecht, Prozessrecht und Arbeitsrecht
Am Mittwoch habe ich mir auch die Vorträge der Referenten in der Abteilung Urheberrecht angehört, da ich das Thema „Urheberrecht in der digitalen Welt – Brauchen wir neue Regelungen zum Urheberrecht und dessen Durchsetzung?“ sehr interessant und aktuell fand.
Eine für Sprachmittler bedeutsame Entscheidung gab es in der Abteilung Prozessrecht. Die hier beteiligten Juristen sprechen sich in der Beschlussfassung dafür aus, den Ländern die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen mit der Gerichtssprache Englisch zu ermöglichen.
Ein bisschen überrascht war ich, als ich hörte, dass die Abteilung Arbeitsrecht auf eine Beschlussfassung verzichtet hat. Das diesjährige Thema „Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?“ führte wohl zu so kontroversen Diskussionen, dass auf eine Abstimmung verzichtet wurde. Mir wurde erklärt, dass dies nicht zum ersten Mal geschieht und dass gerade beim Arbeitsrecht zwei Welten aufeinanderprallen: Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Da die Beschlüsse der einzelnen Abteilungen als Empfehlungen an den Gesetzgeber zu verstehen sind, ist gut vorstellbar, dass die Vertreter versuchen, die eigenen Interessen durchzusetzen. Leider haben sie sich beim diesjährigen Juristentag nicht einigen können.
Politik & Recht
Und die politischen Parteien legen auf gute Beziehungen zu den Juristen großen Wert. Dies wird in zahlreichen Einladungen zu verschiedenen Empfängen sowie den Ansprachen hochrangiger Politiker deutlich. Ob CDU, FDP, Die Linke oder Bündnis 90/Die Grünen – alle haben zu einem Empfang anlässlich des 70. Deutschen Juristentages eingeladen und Spitzenpolitiker waren auch vertreten. Ansonsten gab es noch die Eröffnungssitzung mit einer Festansprache des Bundespräsidenten Joachim Gauck sowie Grußworten des Bundesministers der Justiz und für Verbraucherschutz und des Niedersächsischen Ministerpräsidenten, den Empfang der Region und Stadt Hannover mit der Ansprache des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Hannover und des Präsidenten der Region Hannover sowie den Abschlussempfang der niedersächsischen Landesregierung vertreten durch die Niedersächsische Justizministerin. An der Podiumsdiskussion zu Zukunftsfragen der Europäischen Union beteiligte sich der Bundesminister des Inneren.
Die Festansprache des Bundespräsidenten während der Eröffnungssitzung war von strengen Sicherheitsvorkehrungen begleitet. Die Rede war durchaus kritisch und machte den anwesenden Juristen deutlich, welche Verantwortung ihre Berufsgruppe hat und wie weitreichend ihre Entscheidungen sein können. So kritisierte er beispielsweise den Umgang der Justiz mit den Verbrechen der Nazi-Zeit. Er erinnerte auch daran, dass der Rechtsstaat keine Selbstverständlichkeit ist.
Beeindruckendes Rahmenprogramm
Der 70. Deutsche Juristentag in Hannover bestand jedoch nicht nur aus Fachvorträgen und Diskussionen. Es gab auch ein buntes Rahmenprogramm. So konnte man an Tagesausflügen in die Umgebung der niedersächsischen Landeshauptstadt teilnehmen oder verschiedene Museen und andere Sehenswürdigkeiten in Hannover besichtigen. Ich habe mich für die Führung durch die Herrenhäuser Gärten entschieden, die sehr kompetent vom Gartendirektor persönlich durchgeführt wurde. Wir hatten an dem Vormittag herrliches Wetter und konnten die interessante Führung durch den Großen Garten mit barocker Gartenkunst, sprudelnden Kaskaden und Fontänen entsprechend genießen. Auch die von der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle modern gestaltete Grotte mit bunten Figuren, Glasmosaiken und Kieselsteinen hat mich sehr fasziniert.
Am nächsten Tag ließ ich mich von der Begeisterung der Museumsführerin für die im Sprengel Museum Hannover ausgestellten Künstler der Avantgarde anstecken. Sie zeigte uns sehr eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen Zeitgeschichte und künstlerischen Entwicklungen und erklärte uns einzelne Werke von Otto Dix, Pablo Picasso und Emil Nolde. Selbstverständlich haben auch das vom El Lissitzky entworfene „Kabinett der Abstrakten“ sowie der Merzbau – eine grottenartige Collage-Skulptur des Hannoveraners Kurt Schwitters – nicht gefehlt.
Den Bezug zu Hannover und seiner Geschichte gab es auch im Landesmuseum bei der Führung durch die Ausstellung „Als die Royals aus Hannover kamen“. Hier konnten wir anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Personalunion zwischen dem Königreich Großbritannien und dem Kurfürstentum Hannover Exponate zu dieser 123 Jahre andauernden Epoche besichtigen.
Den historischen Stadtrundgang am Montagnachmittag habe ich leider verpasst, weil ich stundenlang im Stau auf der Autobahn steckte. Da ich außerhalb von Hannover privat untergekommen bin, wollte ich nicht aufs Auto verzichten.
Abendprogramm
Die lange Anreise am Montag hat sich jedoch trotzdem gelohnt, da ich auf Einladung des Niedersächsischen Anwalts- und Notarverbandes, des Niedersächsischen Richterbundes und der Rechtsanwaltskammer Celle in die prächtigen Räumlichkeiten des Amtsgerichts Hannover den Auftakt des 70. Deutschen Juristentages zusammen mit vielen Gästen feiern konnte. Die ersten Kontakte wurden geknüpft und meine Anspannung auf die ersten offiziellen Tage stieg.
Getoppt wurde der erste Abend durch die Hannoversche Juristennacht am Dienstag. In der barocken Galerie Herrenhausen wurde reichlich gespeist, getanzt und gefeiert. Das Saxophonquartett Sistergold bot ein sehr gelungenes musikalisches Programm an. Die lauwarmen Temperaturen an diesem Septemberabend waren ideal, um einen nächtlichen Spaziergang durch den Großen Garten zu genießen. Ich habe mich auch an diesem Abend unter die anwesenden Juristen gemischt, neue Kontakte geknüpft und anregende Gespräche geführt.
Auch am Mittwoch wurde für ein anspruchsvolles Abendprogramm gesorgt. Nach dem stilvollen Empfang der Region Hannover und der Stadt Hannover im prächtigen Neuen Rathaus ging es zum Festkonzert der NDR Radiophilharmonie im Großen Sendesaal des NDR weiter. Gespielt wurden die Ouvertüre zu Egmont von Ludwig van Beethoven, die 7. Sinfonie von Antonín Dvořák und das Violinkonzert von Jean Sibelius. Nach diesem musikalischen Genuss habe ich das Genre gewechselt und mich in das Schauspielhaus Hannover begeben, in dem ein DJ aufgelegt hat und getanzt wurde.
Am letzten Abend habe ich mich für die Fernsehsendung Tacheles entschieden und als Zuschauerin die kontroversen Diskussionen am roten Tisch in Hannovers größter Kirche, der gotischen Marktkirche verfolgt. Das Thema der übrigens letzten Tacheles-Sendung, die am Sonntag den 28. September 2014 um 24 Uhr und am Sonntag den 5. Oktober 2014 um 13 Uhr bei Phoenix ausgestrahlt wird, lautete: „Dürfen Ärzte töten?“. Juristen, Ärzte und Kirchenvertreter diskutierten über die Frage, ob und wie Ärzte und Patienten über das Leben verfügen dürfen.
Nicht nur für Juristen
Ich möchte es an dieser Stelle nicht versäumen, dem Deutschen Juristentag e.V. dafür zu danken, dass die Teilnahme am Kongress auch für Nichtmitglieder und vor allem die interessierte Öffentlichkeit möglich ist. Ich konnte zwar als Nichtjuristin über die Beschlussfassung nicht abstimmen, durfte mich aber an den Diskussionen beteiligen. Für mich als Rechtsübersetzerin und Gerichtsdolmetscherin bot sich dadurch die Möglichkeit, eine Art Fortbildungsveranstaltung zu besuchen, sich mit Rechtsthemen auseinanderzusetzen und schließlich auch wichtige Kontakte zu knüpfen.
Gute Organisation
Meinen Hut ziehe ich vor den Organisatoren dieser Tagung. Ich habe schon an mehreren Kongressen und auch internationalen Veranstaltungen teilgenommen, war aber von der Organisation des 70. Deutschen Juristentages begeistert. Man stieß überall auf sehr freundliche Mitarbeiter, die stets bemüht waren weiterzuhelfen. Es war alles durchdacht und man fühlte sich nicht allein gelassen. Hervorragend – auch aus organisatorischer Sicht – war das bereits erwähnte Rahmen- und Abendprogramm.
Sehr gelungen fand ich auch die App, die man sich auf sein Smartphone kostenlos herunterladen konnte, um das ganze Programm inklusive der Adressen der Veranstaltungsorte stets im Blick behalten zu können. Sie war sehr einfach gestaltet, aber äußerst praktisch. Es war auch möglich, sich das persönliche Tagungsprogramm zusammenzustellen und man wurde über kurzfristige Änderungen topaktuell informiert.
Loben möchte ich auch die bei den Empfängen und Abendveranstaltungen servierten Speisen. Als einzigen Kritikpunkt würde ich anführen, dass im Congress Centrum kein Wasser während der Fachtagung zur Verfügung stand.
Fotos
Schließlich ist es den Organisatoren auch gelungen, für schönes Wetter zu sorgen, so dass wir die fachkundigen Gespräche zwischen den Veranstaltungen nach draußen verlagern konnten. Dass es der Wettergott mit uns gut gemeint hat, sieht man auch auf meinen Bildern, die ich während des ganzen Juristentages gemacht habe. Sie können sie sich als Diashow u.a. auf meinem YouTube-Kanal anschauen.
Böhmischer Hof
Zum Schluss möchte ich noch eine Empfehlung aussprechen. In Pattensen (ca. 15 km von Hannover) befindet sich ein ausgezeichnetes Restaurant mit traditioneller böhmischer Küche. Wenn Sie also auf der Suche nach einem Restaurant mit netter Atmosphäre, hausgemachten Speisen und frischgezapftem tschechischen Bier sind, kann ich Ihnen das Restaurant Böhmischer Hof (Göttinger Straße 37, 30982 Pattensen, Tel.: 05101/915277) nur empfehlen.
Fazit
Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich für mich der Besuch des 70. Deutschen Juristentages sehr gelohnt hat. Ich habe viel gelernt, interessante Gespräche geführt, neue Kontakte geknüpft und schöne Orte in Hannover besucht. Ich bin mit vielen Eindrucken und ohne Stau zurück nach Berlin gefahren und habe mir fest vorgenommen, in zwei Jahren beim 71. Deutschen Juristentag in Essen wieder dabei zu sein.
2 Kommentare
Hallo Frau Mäder,
da ist Ihnen eine schöne Darstellung des 70. DJT gelungen. Aus meiner Sicht als Jurist ist noch anzumerken, dass man beim „Richterkabarett“ als Abendveranstaltung die seltene Gelegenheit hatte anzusehen, wie sich Juristen so richtig selbst durch den Kakao ziehen können.
Außerdem waren die Standtafeln zu den jüdischen Juristen, die ab 1933 aus reiner Willkür Berufsverbot erhielten, der beste Beleg für die Feststellung des Präsidenten Gauck, dass der Rechtsstaat kostbar ist.
Was Ihre Tätigkeit als Dolmetscherin angeht, übernehmen Sie eine sehr wichtige Funktion zur Rechtsanwendung in einem Rechtsraum, der sich längst nicht mehr durch eine einheitlichen Sprache definiert. Die Vermittlung von Recht ist in erster Linie eine Vermittlung von Worten und da kommt es nicht nur, aber zuvorderst auf die Sprache an.
Da die Themen des DJT vielfach auch gesellschaftspolitische Entwicklungen widerspiegeln, werde ich ebenso versuchen 2016 nach Essen zu kommen. Den gelegentlich gehörten Dünkel gegen Essen teile ich überhaupt nicht. Um entsprechende schöne Rahmenbedingungen bin ich nicht in Sorge, da Essen eine vollkommen unterschätzte Stadt ist, was sich spätestens seit der Ruhr.2010 vielfach herumgesprochen haben sollte.
Hardy Scholz
Hallo Herr Scholz,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Sowohl das Rahmen- als auch das Abendprogramm waren so vielseitig, dass man die Qual der Wahl hatte. Daher vielen Dank für Ihre Ergänzung.
Die Schicksale der jüdischen Juristen haben mich auch sehr berührt.
Es freut mich sehr, zu hören, dass Sie die Arbeit der Dolmetscher so sehr schätzen. Leider ist es nämlich nicht oft der Fall. Auf dem 70. Deutschen Juristentag bin ich allerdings fast ausschließlich auf sehr interessierte Gesprächspartner gestoßen.
Da ich noch nie in Essen war, wird der 71. Deutsche Juristentag eine gute Gelegenheit sein, die neuntgrößte Stadt Deutschlands zu besuchen.
Iva Mäder